Vor 50 Jahren Vertreibung aus der Schlesischen Heimat, Neuanfang im Wittgensteiner Land, -unserer zweiten Heimat!
Ein Bericht von Christa Gabel geb. Exner
Nachdem der zweite Weltkrieg (1939 -1945) vorbei war, kamen nach dem 8. Mai die russischen Truppen in unsere schöne Grafschaft Glatz. In jedem Ort wurde eine russische Kommandantur eingerichtet. (Bei uns im Gasthaus „Zum Kronprinz“)
Nun begann die schreckliche Zeit. Nachdem ein Teil der russischen Truppen wieder abgezogen wurde, kamen die Polen ins Land. Nach und nach wurde jedes Haus von Polen besetzt, die deutschen Besitzer geplündert und enteignet. Später zog die polnische Miliz (Polizei) bei Nachbar Gallisch ins Haus. Über diese schreckliche Zeit könnte wohl ein jeder der Betroffenen ein Buch schreiben. –
Nun möchte ich kurz über unsere Vertreibung im August 1946 berichten.
Wölfelsdorf hatte damals ca. 1800 Einwohner. In fünf Gruppen wurden wir von den Polen ausgewiesen. Der erste Transport wurde im März 1946 zusammengestellt. Man hatte sie förmlich über Nacht rausgeschmissen. Die Leute waren unvorbereitet und konnten deshalb nur sehr wenig mitnehmen. Wir dagegen bekamen einige Tage vorher Bescheid, wann wir Haus und Hof verlassen sollten.
Am 28. August 1946 – Mittwoch –
mussten wir abends mit unseren Habseligkeiten (jeder durfte nur das mitnehmen was er tragen konnte) zur Sammelstelle in das uns gegenüberliegende Gasthaus „Zum Kronprinz“ kommen um dort sitzend auf unseren Bettrollen zu übernachten.Vor 50 Jahren Vertreibung aus der Schlesischen Heimat, Neuanfang im WittgenstVor 50 Jahren Vertreibung aus der Schlesischen Heimat, Neuanfang im Wittgensteiner Land, -unserer zweiten Heimat!einer Land, -unserer zweiten Heimat!
Am 29. August – Donnerstag –
frühmorgens ging es Richtung Mittelwalde. Über Ebersdorf, Schönfeld 18 km zu Fuß, das Gepäck auf dem Pferdewagen, welchen die Polen zur Verfügung gestellt hatten. Unsere Nähmaschine gaben wir als Gegenleistung. Nachmittags vor dem Bahnhof Mittelwalde angekommen waren schon viele Leute da und saßen auf ihren Habseligkeiten. Später ging es durch die Kontrolle zum Bahngebäude. Alle Gepäckstücke wurden von den Polen nochmal durchsucht, neue Sachen weggenommen, wie auch Schmuck und Wertsachen. Jeder durfte nur einen geringen Geldbetrag (Reichsmark) bei sich haben. Ich sehe heute noch Frau Spittel mit ihren Kindern und einem Wagen da stehen. Alles wurde nochmal durchsucht. Hinter dem Bahnhof stand ein langer Güterzug den wir nun besteigen durften. Als sich der Zug in Bewegung setzte war mein Bruder Hans nicht da. Besorgt suchten wir ihn, und fanden ihn im Wagen nebenan bei Freunden. Unser Viehwaggon hatte die Nummer 35, in welchem ca. 38 Personen, vom Kleinkind bis zum Greis zugeteilt wurden.
30. August – Freitag –
In den Morgenstunden setzte sich der Zug in Bewegung. Wir sahen noch einmal die schöne Landschaft, die Berge und von Ferne das Bergkirchlein Maria Schnee. Sollte es ein Abschied für immer sein? Niemand wusste wo es hingehen würde. Manchmal blieb der Zug stehen, da war die Gelegenheit die Notdurft zu verrichten, denn es gab im ganzen Zug keine Toilette. Wir fühlten uns wie Freiwild.
Samstag den 31. August.
Über Glatz, Schweidnitz erreichten wir Kohlfurt. Dort stand ein weiterer Transport in dem auch Wölfelsdorfer Landsleute vom Niederdorf waren und gleich weiterfahren sollten in Richtung Hannover.
Sonntag, 1. September.
Keine Weiterfahrt, keine Abfertigung, denn Sonntag war bei den Alliierten Ruhetag. Nun übernahmen die Engländer unsere Transporte und wir erfuhren von einem Offizier, dass wir in die britische Zone kommen.
Montag, 2. September.
In der Nacht setzt sich der Zug in Richtung Magdeburg Helmstedt in Bewegung. Gegen Abend kamen wir im Lager Marienborn an. Dort wurden wir desinfiziert und wir konnten uns endlich vernünftig waschen. Wir bekamen warmes Essen, denn die Vorräte, die wir von zu Hause mitgenommen hatten, waren völlig aufgebraucht.
Dienstag 3. September
Mein Vater, Emil Exner, wurde an diesem Tag 50 Jahre alt. Wir freuten uns über die Essenzuteilung. Es gab pro Person einen Salzhering.
Freitag 6. September.
Wir fuhren über Hagen nach Siegen in das Flüchtlingslager am Wellersberg wo wir auch untersucht wurden. In Hagen am Bahnhof angekommen, gingen Franke Emil und Ullrich Hermann zum Friseur. Inzwischen aber fuhr der Zug weiter. (Kleine Panik) Exner Emil meinte, „keine Angst, wir sind ja im Westen.“ Und tatsächlich als wir in Kreuztal ankamen da standen die zwei schon am Bahnsteig. Man hatte sie mit einem Schnellzug nachgeschickt. Siegen war eine zerbombte Stadt und wir blieben dort nur einen Tag.
Samstag 7. September
Nun fuhren wir im Personenzug in das Wittgensteiner Land was nun unsere zweite Heimat werden sollte. Am Bahnhof fragte mein Vater den Schaffner: „Was ist das für eine Gegend Erndtebrück und Laasphe?“ Er sagte: „Die Gegend ist arm und kalt!“ Unterwegs ein kleiner Lichtblick, wir sahen Berge und Steinpilze am Waldrand stehen. In Erndtebrück wurde ein Wagen abgehängt. Die Familien Buchtel, Wolf, Geisler, Kaluscha, Morawetz, Rupprecht, Feichtinger, Uttner, Brosig, Werner, Wolf, Spittel, Pfeiffer, Urner und Gallisch Hannchen wurden von da aus verteilt. Familie Bolatzki kam nach Puderbach, Kaluscha und Franke nach Oberndorf, Familie Scholz und Ullrich nach Volkholz „Augustenhof“. Klapper, Kopetzki, Lux, Fleischhauer und Faulhaber nach Laasphe. Familie Heinsch, Plüschke und Werner Martha kamen nach Hesselbach. Familie Klar und wir Exner´s nach Banfe. „BANFE“. Doch der Bürgermeister wollte uns nicht, weil die zwei Familien zu groß waren. So wurden wir schließlich auf mehrere Häuser verteilt. Am ersten Abend in Banfe kochte unsere Vermieterin, Frau Wickenhöfer, uns einen Topf Pellkartoffeln. Sie hatte selbst nicht viel machte uns aber eine große Freude. Für uns eine Delikatesse nach der langen Reise. Dann kam am Abend das große Erwachen. Kaum Möbel im Zimmer (eine Bank, ein Tisch und ein Stuhl). Später machten wir uns aus Gemüsekisten unsere ersten Möbel. Einen Herd konnten wir erst Wochen später gegen Bezugschein kaufen. Nach einiger Zeit bekamen wir einen Tisch vom Kindergarten. Unser Nachbar, Heinrich Dörr, verlängerte die Beine auf normale Länge. Später besorgte sich Herr Dörr ein paar Bretter und zimmerte daraus für uns zwei einfache Betten. Wir waren sehr dankbar. Und noch heute fragt man sich, wie wir die ersten Wochen überstanden haben.
Am 8. September 1946 bekamen wir die ersten Lebensmittelmarken, wir konnten einkaufen gehen, hatten zu Essen und das Gefühl „Gott sorgt für uns“! Am Tag nach unserer Ankunft in Banfe ging mein Vater mit Hans nach Laasphe. In Laaspherhütte rief eine Frau: „Guten Tag Herr Exner!“ Es war die Fritsche Maxen, unsere Wölfelsdorfer Nachbarin (Gasthaus Zum Kronprinz). Sie war schon im März als Flüchtling hier her gekommen. Tochter Anni und Familie hatten in Fischelbach eine Bleibe gefunden. Jeder sah, dass er irgendwo arbeiten konnte um zu überleben. Meist kam man bei Bauern oder in Industriebetrieben unter. Wir strickten für die Leute. 1 Pullover = 1 Brot oder 1 Stückchen Speck und 5 Mark. Sonntags gingen wir in Laasphe, Fischelbach, Banfe oder Feudingen zur Kirche. Dort trafen wir wieder viele Wölfelsdorfer und anschließend wurde viel erzählt. Montags hatten wir wieder Heimweh. Und trotzdem hatten wir das Gefühl geborgen zu sein und in Ruhe Leben zu können, was die letzte Zeit zu Hause nicht mehr der Fall war. Bei den Polen durften wir nach 20 Uhr nicht mehr raus. So haben wir uns alle so langsam wieder hoch gerappelt. Damals gab es ein Sprichwort: „Man kann die Schlesier auf einen Felsen verpflanzen, da machen die noch ein Gemüsegärtchen daraus.“ Im Herbst gab es viele Pilze und Heidelbeeren am Lahnhof – Fußweg ca. 3 Stunden. Auch viele Bucheckern gab es, die wir sammelten und gegen Öl und Margarine eintauschten. Im Wald suchten wir Holz für den Ofen. So überstanden wir die ersten Wochen nach unserer Vertreibung. Der kalte Winter stand vor der Tür aber wir fühlten uns hier geborgen.
Nun nach 50 Jahren – wo wir alles haben – fragen wir, wie hat man das geschafft?
Gewiß nur mit Fleiß und Gottes Kraft!
Banfe im November 1996
Christel Gabel geb. Exner