Reise in die Grafschaft Glatz 2019 und die Frage, was ist Heimat?

Als mich mein Vater vor circa einem Jahr einmal beiläufig fragte, ob ich eventuell Lust hätte, ihn auf seiner 2. Reise mit einer Reisegruppe aus Erndtebrück in die Grafschaft Glatz im Sommer 2019 zu begleiten, da sagte ich ganz spontan zu, ohne eigentlich zu wissen, auf was ich mich denn da konkret einlassen würde.

Allein der Gedanke, mich auf die Spuren meiner Vorfahren zu begeben, die Gegend zu entdecken, wo mein verstorbener Großvater ursprünglich herkam und von welchem ich immer wieder mal die eine oder andere Geschichte aus der «schlesischen Heimat» hören durfte, fand ich spannend und interessant.

Und genau da kam mir die Frage, was heißt Heimat eigentlich? Das Wort «Heimat» klingt für viele jüngere Menschen eher altmodisch, ja vielleicht sogar unpassend in einer vernetzten und fast schon grenzenlos gewordenen Welt. Was macht sie aus, diese Heimat? Ich selber bin in der Schweiz geboren und aufgewachsen und erlebe die Dreiländereck-Region um Basel als meine Heimat.

Aber wie ist es, wenn man aus seiner Heimat vertrieben worden ist und ein Teil seines Lebens zurücklassen musste? Wie stellt sich Heimat dar bzw. was macht sie aus, diese Heimat? Ist sie an ein bestimmtes Gebiet gebunden? Ist sie teilbar oder unteilbar? Und lässt sich eine alte Heimat in eine neue überführen?

Das waren Fragen, denen ich auf dieser Reise für mich nachgehen wollte.

Und so startete ich mit meinem Vater Anfang August von Basel mit dem Auto Richtung Polen, wo wir nach langer und zeitweise anstrengender Fahrt wohlbehalten in Bad Altheide im Pensionat Panorama ankamen. Der Wirt Richard und seine Frau begrüßten uns sehr herzlich und bald darauf kam auch schon der Reisebus aus Erndtebrück mit der übrigen Gruppe an.

Viele rüstige und bestens aufgelegte Seniorinnen und Senioren strömten mir entgegen, gaben mir unbekannterweise herzlich die Hand und ich fühlte mich gleich sehr willkommen.

Beim Abendessen durfte ich die Leute an unserem Tisch näher kennenlernen und feststellen, dass sich die meisten schon lange von diesen Reisen in die «Heimat» kennen. Es wurden Geschichten gemeinsamer früherer Fahrten ausgetauscht und die eine oder andere witzige Anekdote berichtet. Heimat heißt also unter anderem eine Gemeinschaft mit gemeinsamer Vergangenheit zu leben, dachte ich mir.

Am nächsten Tag ging es früh los Richtung Wölfelsdorf und Wölfelsgrund mit Begegnung und Mittagessen mit dem Rentnerverein Wilkanow. Ich war gespannt, jetzt würde ich es sehen, das Dorf, wo mein Großvater geboren und einen Teil seiner Kindheit und Jugend verlebt hat. Im Bus herrschte eine fröhliche Stimmung, es wurde gefeixt und gelacht und auf der Fahrt durch eine Landschaft geprägt von Wiesen, Feldern und waldigen Hügeln kam so manche Geschichte von «früher» beim Anblick von Ortsschildern hervor.

In Wölfelsdorf wurde die schön renovierte Dorfkirche mit einem Gottesdienst besucht und ich merkte, wie wichtig diese Kirche aber auch der damit verbundene Glauben für viele der Mitreisenden ist.

Auch der Spaziergang zu den jeweiligen Geburtshäusern im Dorf lag manchem in der Gruppe sehr am Herzen und auch mich berührte der Anblick des Geburtshauses meines Großvaters in seiner bescheidenen Schlichtheit.

Beim Spaziergang wurden Kindheitserinnerungen bei den Wölfelsdorfern wach. Der eine erzählte von den unendlich langen Prozessionsmärschen von Wölfelsdorf bis nach Maria Schnee zu Fuß und in voller Prozessionsmontur. Ein anderer vom Einzug der russischen Besatzer in die Häuser der Deutschen und das gemeinsame Miteinanderwohnen.

Und offensichtlich erlebte nicht  jeder diese Zeit als traumatisch. Es schienen sogar familiär-freundschaftliche Beziehungen mit den russischen Mitbewohnern dabei entstanden zu sein.

Die nächsten Tage führten unsere Busreisen in die Kreisstadt Glatz, nach Habelschwerdt, Neisse, Breslau sowie Bad Kudowa, Tscherbeney und Bad Reinerz. Und während Roland, unser Reiseleiter, uns zuvor mit spannenden Daten und Informationen zu Gründung, Entstehung und Entwicklung von Sehenswürdigkeiten und wichtigen Personen der Geschichte, wie zum Beispiel der berühmte Dichter der Romantik, Joseph von Eichendorff in Neisse fütterte, wurden wir parallel von Frank, unserem Busfahrer und der unschlagbaren «Bus-Hostess» Stefan mit heissen Würstchen, Kaffee und Kuchen versorgt.

Ein Besuch des Gottwaldhofs in Winkeldorf war für mich besonders spannend, da er einen liebevoll restaurierten typischen schlesischen Bauernhof darstellte, wo uns die Familie Fuglinska mit Kaffee und leckerem Streuselkuchen in allen Variationen begrüßte.

Die Räume des Wohnhauses waren dicht dekoriert mit Gegenständen des täglichen Lebens aus dieser Zeit und gaben Einblick, wie die Menschen damals gelebt haben. Eines wurde mir sehr rasch schmerzhaft klar, die Leute damals waren deutlich kleiner und ich stieß mir so einige Male den Kopf an Decken und Türrahmen an.

Lustig war der Anblick des Plumpsklos im Hof mit einem kleinen separaten Sitzloch daneben, der wohl für die Kinderpopos gedacht war.

Und als unter der Begleitung eines Akkordeonspielers gemeinsam deutsche Volkslieder gesungen wurden, da wurde es wieder sehr spürbar, dieses Bedürfnis der Menschen nach Heimat.

Während dieser Woche durfte ich viele schöne Begegnungen mit den übrigen Mitreisenden machen und spannenden und berührenden Geschichten zuhören aus deren Kindheit und Jugend. Bei einigen Geschichten konnte man lachen und bei anderen wurde man beim Zuhören still und nachdenklich und mir wurde bewusst, dass so mancher Mitreisender auch einige schwierige und schmerzhafte Erinnerung in seiner Lebensbibliothek bis heute mit sich trägt.

Ich erkannte, dass Heimat aber auch genau durch diese Geschichten entsteht, durch Schicksale, die verbinden.

Jeden Abend durfte ich mich auf die herzhafte Küche von Richard´s Frau freuen, zu welcher immer eine deftige Suppe zur Vorspeise gehörte und von denen ich bis heute noch schwärme. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel und so häufig Fleisch gegessen in allen Variationen, was seinen Gipfel beim abschließenden Grillabend fand, wo sowohl die Runden von neuen Würsten, Spiessen und Klopse als auch die Runden mit «heiligem Wasser», einer Art Kräuter-Wodka, kein Ende nahmen. Ich war schon ziemlich angeheitert vom heiligen Wasser, da kam der Höhepunkt des Abends, die rituelle Taufe mit Wasser aus der Wölfel für diejenigen, welche zum ersten Mal dabei waren.

Und als mir der Hohepriester Alois mit festlicher Rhetorik und feierlichem Zeremoniell unter Assistenz seines Novizen Stefan kräftig das Wölfelwasser über mein Haupt goss unter heiterem Lachen der übrigen Mitreisenden und ich mich im Anschluss triefend und stolz «Neuwölfelsdorfer» nennen durfte, da klang es auch in mir an, dieses Gefühl von Zugehörigkeit, das man wohl Heimat nennt und heißt, sich willkommen und aufgenommen zu fühlen in einer Gemeinschaft.

Und mit diesem neuen Heimatgefühl durfte ich nach einer Woche wieder zurück nach Basel fahren.

Was ich mitnehme von dieser Reise?

Heimat ist nicht zwingend an eine geographische Region gebunden, aber sie scheint wichtig, denn sie weckt beim Anblick die Erinnerungen an früher. Ich denke, Heimat wird vor allem getragen durch gemeinsam erlebte Geschichten, die Identität und Zugehörigkeit vermitteln.

Und Heimat ist definitiv teilbar, das zeigte mir das mittlerweile doch herzliche und offene Verhältnis der deutschen und polnischen Wölfelsdorfer miteinander vor dem Hintergrund einer bestimmt nicht immer einfachen gemeinsamen Vorgeschichte.

Durch mein Basler Herz fließt der Rhein aber seit dieser Reise in die Grafschaft Glatz bekam der Rhein für mich einen neuen Zufluss und der heißt Wölfel.

                                                                                                                                                    Sandro Schroller