2./3.9.1946

Aus den Erinnerungen und Tagebüchern unserer Vertreibung

Montag und Dienstag, 2. und 3.9.1946

Die Reise geht weiter. Von Kohlfurt geht die Fahrt über Hoyerswerda, Wittenberg, Magdeburg nach Marienthal (Kreis Helmstedt). Am Dienstag erfolgt die gleiche Prozedur wie zuvor in Kohlfurt: Erneute Registrierung und wieder eine Desinfektion mit dem ekligen weißen Pulver.

Die Zeit in den Wagons kam uns unendlich lange vor. Wir hörten das ständige Rattern der Räder auf den Schienenstößen und das Pfeifen und Zischen der Lokomotive. Es war sehr langweilig. Die Wagons hatten lediglich oben unter dem Dach kleine schmale Fenster bzw. Öffnungen. Zum Hinausschauen für uns Kinder viel zu hoch. Ab und zu, wenn der Regen nachließ, wurde die Tür geöffnet. Der Anblick, der uns dann bot, war auch nicht schöner: Wir sahen viele zerbombte Städte und bekamen furchtbare Angst, als der Zug bei Magdeburg unendlich langsam über eine stark beschädigte Notbrücke fahren musste. Es knirschte und knarrte fürchterlich und unter uns floss die mächtige Elbe.

„Das war ein Moment, wo selbst meine damals 70-jährige Großmutter Philomena Angst hatte“, berichtet ein damals zweijähriges Mädchen von Erzählungen. „Von meiner Mutter erfuhr ich später, dass Philomena eine sehr starke, furchtlose und immer zuversichtliche Frau war. Während der gesamten Fahrt in Wagon Nr. 39 war sie der ruhende Pool, der uns Kindern jede Angst nahm.

Auf dem Foto (Bild 1) steht Philomena direkt hinter dem Kind mit der weißen Mütze, dritte von rechts. Das Foto wurde vielleicht zwei Jahre vor der Vertreibung aufgenommen

 Auf die spätere Frage, ob sie denn keine Angst hatte, antwortete sie: „Kurz bevor wir Wölfelsdorf verlassen mussten, habe ich auf Maria Schnee zur Mutter Gottes gebetet und ihr eine Kerze entzündet. Sie versprach mir, uns zu beschützen.“ Ein starkes Gottvertrauen und vielleicht ein wenig Glück, verhalf uns, die Strapazen, den Hunger und die ständige Ungewissheit zu überstehen.“

„Auf der Fahrt musste der Zug öfters anhalten. Natürlich wussten wir meistens nicht, ob der Stopp planmäßig war und wann genau die Fahrt weitergehen sollte,“ so berichtete des Mädchens von den Erinnerungen ihrer Mutter. „bei einem Stopp sprangen mein damals 9-jähriger Bruder und sein Schulfreund Martin aus dem Wagon. Wahrscheinlich wurde gesagt, dass der Zug länger halten muss. Doch plötzlich hörte ich ein langes Pfeifen und kurz darauf setzte sich der Zug in Bewegung. Von meinem Bruder und Martin war nichts zu sehen. Meine Großmutter und der Wagenälteste versuchten alles, den Zug zu stoppen. Ohne Erfolg. In Wagon Nr. 39 brach Panik aus. Im letzten Moment gelang es den beiden noch, auf den Wagon zu springen und hinein zu klettern. Von diesem Moment an, wich mein Bruder unserer Mutter nicht mehr von der Seite. Welche Ängste muss er durchgemacht haben, als der Zug plötzlich los fuhr? Was wäre aus den beiden geworden, hätten sie den rettenden Sprung nicht mehr geschafft?“